Men� als Gro�e Oper

Das B�hnenbild: optischer Belcanto. Ein See, noch ein bi�chen sch�ner als als sch�n, und eine Insel, von der man schon einmal getr�umt hat. Die Personen: ein F�hrmann mit telepathischer Begabung, ein Koch, derdem Zauber seines einzigen Men�s erlegen ist, Wanderer aus aller Welt und diverse Geister aus Adel und Klerus. Handlung: dreht sich im wesentlichen urn Essen und Trinken. Vorstellungen: t�glich im Comer See, aber nie im November, Dezember und Jannuar.


Zur Vorspeise: Salate und Gem�se
Reisender, kommst du ans Ufer des Comers Sees, so z�gere nicht, in Sala zu rasten. Unten am Wasser, wo kein Weg weiterf�hrt. wird ein Wunder geschen: Wie aus dem Nichts wird ein Boot auftauchen. urn den wartenden Fremden �berzusetzen aut ein verwunschenes Eiland. Vielleicht nennt der freundliche F�hrniann es die Insel der Verdammten. Doch davon sollte sich niemand abschrecken lassen. Denn gegen den Fluch, der seit 800 Jahren �ber der "Isola Comacina" hangt. ist ein hochprozentiges Mittel wirksam. Mehr sei vorerst nicht verraten. Hauptsache, die Neugier ist geweckt.

Und neugierig sollte man sein auf ein Fleckchen Erde, das schon verfolgten Christen und pl�ndernden Barbaren, entthronten K�nigen und verkannten K�nstlern Zuflucht bot. Auf solchem Boden kann man Geschichte und Geschichten erfahren. Und wo es Tradition ist, Bedrangten Schutz zu gew�hren, da ist auch jener willkommen, der nur auf der Flucht vor dem Alltag ist.

Was speziell im Vorfr�hling vorkommt. Weil jetzt schon die blo�e Ahnung von Sonne in den S�den lockt. Ein besonderer Genu� ist die Anreise durch die langsam erwachende Natur f�r den, der nicht am Steuer eines Autos sitzt, sondern per Zug durch die Landschaft zuckelt. Denn der kann bei der Fahrt durch die Schweiz eine der sch�nsten Bahnstrecken der Welt kennenlernen: Es ist das Privatuntemehmen der Ratischen Bahn in Chur, das den ber�hmten Bernina- oder Gletscher-Expre� hinaufschickt bis auf fast 3000 Meter. Ganz langsam arbeitet sich der Zug hoch ins Ober-Engadin und gibt dabei immer wieder �berwaltigende Ausblicke frei auf grandiose Gipfel, die von ewigem Eis und Schnee bedeckt sind. Wenn es dann wieder hinuntergeht ins Tal, wird einem beim ersten Gr�n so richtig bewu�t, da� der Winter nicht endlos wahrt.

In der italienischen Grenzstadt Tirano mu� man umsteigen - und sich ent- scheiden, wo man sein Haupt zur Nacht betten will. Naturlich kann man nach Como fahren, aber auch die kleineren Orte am See sind nicht zu verachten. In Varenna am Ostufer zum Beispiel findet man im Royal Viktoria ein Hotel, das keinen Vergleich zu scheuen braucht. Nur was die Preise angeht, kann es mit der mondaneren Konkurrenz nicht mithalten: Schon f�r etwa 100 Mark bekommt man ein Doppelzimmer in dem Prachtbau, in dem einst Kaiserin Auguste Viktoria nachtigte. Nat�rlich ist das Hotel in der Zwischenzeit restauriert worden, und zwar ebenso stilvoll wie funktionell. Aber ein kaiserlicher Empfang wird manch gl�cklichem Gast immer noch zuteil. Dem namlich, der au�erhalb der Saison kommt. Da kann es schon vorkommen, da� der Hoteldirektor pers�nlich sich die Zeit nimmt, das Kaminfeuer zu entfachen und zu einer Flasche besten Weines aus seinem Keller einzuladen.

Wem so viel Gutes widerf�hrt, der sollte f�r ein kleines See-Abenteuer gewappnet sein. Von Varenna f�hrt die F�hre in wenigen Minuten nach Bellagio, und von dort geht ein Boot nach Comacina. Von Como aus steuern gar richtige Dampfer die Isola Comacina an; Reisedauer etwa eine Stunde. Wer mit dem Auto da ist, f�hrt von Como aus 24 Kilometer am Westufer entlang, parkt in Sala und wandert hinunter ans See-Ufer. Keine Sorge: Ein Schiff wird kommen. Auch der unangemeldete Gast mu� nicht einmal ein Signal geben, so oder so wird er �bergeholt auf die ,,Insel der Verdammten", und sobald er seinen Fu� auf das Eiland gesetzt hat, unterliegt auch er dem geheimnisvollen Fluch, den der Bischof Vidulfo von Como 1169 �ber Comacinaverh�ngte.

Doch dadurch wird ihm kein Harm geschehen. Dafur garantiert Benvenuto Puricelli, der 1976 die Restauration der ,,Locanda dell'Isola Comacina" ubernahm - und gleichzeitig das Rezept, das gegen die bischofliche Verw�nschung wirksam ist. Auch �nderte er nichts an dem Einheits-Men�, das seit 1964, seit Er�ffnung der Gastst�tte, ununterbrochen serviert wird. Nat�rlich hatte Benvenuto Puricelli sich ausgeklugelte Kuchen-Kreationen einfallen lassen k�nnen. Schlie�lich hat er nach der Lehrzeit vier Jahre lang im feinen Palace-Hotel zu St-Moritz gearbeitet, und er geh�rte auch zu den auserwahlten Kochk�nstlem, die der Schah von Persien 1972 einfliegen lie�, um anl��lich der 2500-Jahr-Feier von Persepolis seine hochwohlgeborenen Gaste aus aller Welt verw�hnen zu lassen. Anschlie�end wirkte Benvenuto Puricelli als K�chenchef im Penthouse-Club in London, einer jener Oasen, die dem schlechten Ruf der englischen K�che nicht gerecht werden.

Es ist nicht so, da� Benvenuto Puricelli das Wissen jener Wanderjahre vergessen h�tte, aber statt einer internationalen Speisenkarte hat er lieber Internationale Gaste. So ist es Brauch auf der Insel, und deren Tradition will er unverf�lscht erhalten. Das gebietet ihm die Liebe zur Heimat.

Benvenuto Puricelli wurde in Sala Comacina geboren und wuchs auch dort auf - immer die Insel vor Augen und ihre Geschichten im Ohr. Er mu�te einfach zugreifen, als Lino Nessi, genannt ,,Cotoletta", f�r die ,,Locanda" einen Nachfolger suchte. Und das Versprechen, alles beim alten zu lassen, fiel ihm nicht schwer.

So gibt es wie eh und je zuerst ,,antipasto all'isolana". Dazu geh�ren roher und gekochter Schinken und acht verschiedene Gem�se, je nach Jahreszeit. Da beweist sich schon, von welch hoher Qualitat ein einfaches Essen sein kann. Wer wei�, vielleicht labten sich sogar die R�mer, die nach den Griechen �ber die Insel kamen, schon an den gleichen Sorten. Auf jeden Fall waren sie kr�ftig genug, mehrere Tempel zu erbauen.


Knuspriges H�nchen mit gr�nem Salat
Die wurden viel sp�ter von den ersten Christen zu Kirchen umfunktioniert - gerade rechtzeitig, um all die Glaubigen aufzunehmen, die vor den Barbaren fl�chten mu�ten. Die namlich verbreiteten auf ihren Raubz�gen durch die Sonnenlander Angst und Schrekken auch an den Ufem des Comer Sees. Christen, die weder Kopf noch Glauben verlieren wollten, retteten sich auf die Insel, die zum Lebens- und Widerstandszentrum wurde und vor�bergehend den Namen Christopolis erhielt. So unterschiedlich die Gesinnung der fr�hen Christen und der heidnischen Eindringlinge auch gewesen sein mag - es darf als gesichert gelten, da alle gleicherma�en Gefallen an den Fischen des frischen Sees fanden. Und die Forelle ,,alla contrabbandie- ra" kann auch der Gast von heute noch guten Gewissens genie�en - als zweiten Gang.

In der dritten und Haupt-Runde gibt es gerostetes H�hnchen mit Salat: ,,Rottami di pollo in padella". Nicht mal ein Heiliger konnte dem k�stlichen Duft und der knusprigen Haut widerstehen. Und Heilige gab es genug auf dieser Insel: Abonde und Agrippa und Domenica. Auch die arme Adelaide, entehrt und von allen verachtet, fand freundliche Aufnahme. Wie man auch heute noch ohne Ansehen von Rang und Namen jeden bewirtet. Weil man auf dieser Insel wei�, wie sich das Rad der Geschichte dreht. Wer heute Kaiser ist, kann morgen schon Bettelmann sein. Dazu hat man hier zu viele entthronte K�nige und enterbte Prinzen gesehen, als da� man einen ganz normalen Touristen nicht zu sch�tzen wu�te. Dem wird der gro�e K�se genauso zugerollt wie F�rsten und Filmstars. Jeder kriegt sein St�ck vom Riesenrad des ,,grana all'escavadora".

Auch noch ein St�ck Geschichte gef�llig? Nun denn. Nachdem Comacina im Laufe eines zehnj�hrigen Krieges gegen Como mit Hilfe Mailander Verbundeter die Oberhand gewonnenhatte, weissagte ein anonymer Dichter: ,,Insel, du wirst in den jahrhunderten verdammt sein." Und der beleidigte Bischof von Como fluchte noch einen Bannspruch hinzu, dessen genauer Wortlaut bis heute geheimgehalten wird. Kein Wunder, da� das Eiland einem wechselvollen Schicksal entgegensah. Jahrhunderte kam es nicht zur Ruhe, wurde hei� umk�mpft und ging von Hand zu Hand.


Und als Nachtisch: Eis mit Orangen
Wie es doch noch zu einem gl�cklichen Ende kam, erf�hrt man beim ,,arancia alla castellana", dem Eis mit Blutorangen: Dei Italiener Auguste Caprani, den die Verluste des kleinen Belgien im Ersten Weltkrieg dauerten, vermachte die Isola dem belgischen Konig Albert I. Dessen Erben wiederum wollten die Insel an Italien zur�ckgeben. Heute wehen die belgische und die italienische Flagge �ber Comacina, weil ein gl�cklicher Kompromi� gefunden wurde - beide L�nder beteiligen sich an einer Stiftung, die belgischen und italienischen K�nstlern zugute kommt. Drei H�user stehen fur ausgedehnte Studienaufenthalte zur Verf�gung. Da konnte es naturlich nicht ausbleiben, da� ein geladener Gast sich auch mal grundlich dem Geheimnis auf die Spur setzte. Es war die Schriftstellerin Francis Dale, wie alle Engl�nder ge�bt im Umgang mit Gespenstern, die das geeignete Mittel entdeckte, den Bann des Bischofs zu brechen. Verraten hat sie es ,,Cotoletta" Nessi, der es an Benvenuto Puricelli weitergab. Der zelebriert nun den ,,Feuerritus" zum Abschlu� eines jeden Mahles. Dazu setzt er sich eine geringelte Wollm�tze auf, egal ob Sommer oder Winter, ob auf der Terrasse mit dem herrlichen Rundblick oder im Gasthof vor dem flackernden Kamin, und w�hrend er Zauberformem vor sich hinmurmelt, bereitet er aus hochprozentigem Lik�r und tiefschwarzem Kaffee jenen Trank, der daf�r sorgt, da� man von allen bosen Geistern verlassen wird.

Aber es bleiben ohnehin nur gute Erinnerungen an einen so gastlichen Ort, wo man fur das �ppige Menu, einschlie�lich Soave- und Valpolicella- Wein, pro Kopf nur 30000 Lire verlangt.

Charlotte Seeling

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